Russlands historisches Erbe
(Datum: 06.03.2022)
Wer 2022 die Entscheidungen der Kreml-Führung verstehen möchte, muss neben deren
wirtschafts- und geopolitischen Interessen in einer globalisierten Welt auch die russische
Geschichte betrachten. Ungeachtet des mehrfachen Wechsels der politischen Systeme
erscheint das historische Erbe Russlands von mehreren Kontinuitäten geprägt.
Inhaltsübersicht
•
Historischer Wandel
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Kontinuitäten
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Einflusszonen
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Mahnungen der Geschichte
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Quellen
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Weitere Literatur und Internetseiten
Historischer Wandel
Auf das autokratische Zarenreich folgte
nach der Februarrevolution 1917 die kurze
Phase einer Republik, nach der
Oktoberrevolution 1917 und dem
russischen Bürgerkrieg gründete sich mit
der Sowjetunion der erste sozialistische
Staat. Zwar kam ihm zunächst eine
weltpolitische Pariastellung zu, im Zweiten
Weltkrieg zählte er jedoch zu den
Siegermächten und war im
anschließenden Kalten Krieg nuklear
bewaffnete Führungsmacht des
Warschauer Paktes. Doch die
Sowjetunion hat den Kalten Krieg 1991
verloren. Nicht nur der Warschauer Pakt
löste sich auf. Auch sie selbst zerfiel unter
Michail Gorbatschows Reformprogramm
von „Glasnost“ und „Perestroika“ in eine
Vielzahl souveräner Nationalstaaten.
Deren politische, wirtschaftliche und
soziale Entwicklung gestaltet sich bis heute schwierig.
Unter Boris Jelzin trat Russland als größter Nachfolgestaat das Erbe der Sowjetunion an. Es
war weiterhin Nuklearmacht und behielt den Ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Doch
außenpolitisch war es schwach und die innenpolitischen Herausforderungen waren enorm:
Von westlichen Krediten abhängig, erfolgte die Umstellung auf die Marktwirtschaft der
ehemals feindlichen Westmächte. Sie verschärfte die sozialen Spannungen im Land und
führte Ende der 1990er Jahre zur Finanzkrise.
Parallel wagte man die ersten Schritte hin zu einer bürgerlichen Demokratie, musste aber
1993 auf einen Putschversuch und später auf die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen in
Tschetschenien reagieren. Unter Wladimir Putin ist 2022 nicht mehr viel von dieser
Demokratie übriggeblieben: Sie gilt als ausgehebelt, gelenkt und kaputt.
Kontinuitäten
Dass die meisten Veränderungen des politischen Systems kurzfristig stattfanden und Führung
sowie Bevölkerung kaum Zeit ließen, sich politisch und gesellschaftlich darauf einzustellen, ist
eine Kontinuität der russischen Geschichte.
Autokratische Führung
Ebenso kontinuierlich stand in allen politischen Systemen Russlands immer eine starke
Führungsperson im Fokus: von den autokratischen Zarinnen und Zaren über die Parteichefs
der KPdSU bis hin zu Putin.
Schwierige Umsetzung liberaler Ideen
Sie alle taten sich in der Geschichte äußerst schwer,
liberale, von der europäischen Aufklärung geprägte
Reformen umzusetzen. Selbst der für seine „Großen
Reformen“ der 1860er Jahre in die Geschichte
eingegangene Zar Alexander II. äußerte gegenüber Otto
von Bismarck, „dass es noch nie gelungen sei, der
liberalen Entwicklung eines Landes an der Linie, welche
dieselbe nicht überschreiten solle, mit Erfolg stillstand zu
gebieten“ (zit. nach. [1]). Liberale bürgerliche Rechte
bargen immer die Gefahr von Eigendynamik und
weitergehenderen politischen Forderungen, die das
autokratische Regime insgesamt gefährden konnten. So
wohlwollend in den 1980er Jahren im Westen
Gorbatschows Reformpolitik von „Glasnost“ und
„Perestroika“ gesehen wurde, so sehr bereiteten sie auch
den Boden für den innenpolitischen Zerfall der
Sowjetunion.
Unterdrückung der Opposition
Das Resultat war in der russischen Geschichte oft eine
harte, misstrauische Politik gegenüber der Bevölkerung.
Dies gilt für die Bekämpfung politischer Opposition, der
Demokratie- und Friedensbewegung unter Putin bis heute.
Russischer Kolonialismus
Die Kontinuität eines langen kolonialpolitischen Kampfes um Gebiete, Macht und
Einflusssphären ließ durch Eroberungen unter dem Zarentum ein riesiges, russisch geführtes
Reich entstehen, das die Sowjetunion erbte. Beide gliederten die Völker notfalls zwangsweise
diesem Reich ein. Da diese Völker russische Herrschaft aber vor allem als Fremdherrschaft
wahrnahmen und in der Zweiten Hälfte der 1980er Jahren ebenfalls von Gorbatschows
Reformen erfasst wurden, brach die Sowjetunion 1991 in souveräne Nationalstaaten
auseinander.
Krimkonflikt und Mittelmeerraum
In Gegnerschaft zum Osmanischen Reich spielte auch die Krim bereits im Zarenreich eine
wichtige geostrategische Rolle. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist sie Staatsgebiet der
Ukraine, wurde 2014 aber völkerrechtswidrig von Russland annektiert. Zu nennen ist auch
der kolonialpolitische Versuch, in der Neuzeit angesichts französischer und englischer
Kolonialziele selber im östlichen Mittelmeerraum aktiv zu sein. Noch aus der Sowjetunion
besitzt Russland heute einen Militärstützpunkt in Syrien.
Einflusszonen
Trotz gegenteiliger mündlicher Zusagen aus dem Anfang der 1990er Jahre erweiterte sich die
NATO ab 1999 und die Europäische Union ab 2004 dann doch nach Osten. Sie umfassen
heute auch das Gebiet des ehemaligen Ostblocks sowie mit Estland, Lettland und Litauen
sogar ehemaliges Staatsgebiet der Sowjetunion. Damit haben sich beide Organisationen bis
an die russische Grenze und in russisches Einflussgebiet ausgeweitet.
Georgien, Ukraine und Moldau
Auch Georgien und die Ukraine waren zeitweise als NATO- und EU-Mitglieder im Gespräch
[2] [3]. Zwar hat Putin diese Entwicklung mit der Unterstützung russischer Separatisten in
beiden Ländern, dem Georgienkrieg 2008 und dem am 24. Februar 2022 erfolgten Angriff auf
die Ukraine vorerst gestoppt. Wäre es aber nur sein Ziel, Russland wieder zu einer
wahrnehmbaren Weltmacht mit zu respektierenden Einflusszonen zu machen, könnte er es
spätestens nach den intensiven diplomatischen Friedensbemühungen vom Januar und
Februar 2022 als erreicht ansehen. Doch es scheint ihm um mehr zu gehen.
Offensichtlich versucht er, verlorene russische/ slawische Gebiete nach Russland, bzw. in den
russischen Einflussbereich zurückzuholen. Denn in vielen postsowjetischen Staaten leben
größere russische Minderheiten. Russisch unterstützte separatistische Bewegungen in
postsowjetischen Staaten gibt es nicht nur in den beiden selbsternannten „Volksrepubliken“
Lugansk und Donezk auf ukrainischem Territorium, sondern mit Abchasien und Südossetien
auch auf georgischem Gebiet, sowie mit Transnistrien in der Republik Moldau. Am 24.
Februar 2022 griff Russland nicht nur die Ukraine an, sondern startete zugleich ein
Militärmanöver in Transnistrien. Die Republik Moldau verhängte inzwischen den
Ausnahmezustand [4].
Demokratie
Zudem greift Putin mit der Ukraine ein Land an, das sich in den letzten Jahren beachtlich
demokratisch entwickelt hat. Es könnte durchaus als Vorbild für andere Staaten des
postsowjetischen Raums dienen, nicht zuletzt für Demokratisierungsbemühungen in
Russland selbst. Doch so eine Entwicklung stünde Putins autokratischen Bestrebungen
genauso im Wege wie die Opposition im eigenen Land.
Mahnungen der Geschichte
Das Recht zu einem Angriffskrieg geht aus der Geschichte ganz sicher nicht hervor. Vielmehr
kann aus den historischen Erfahrungen das Vermächtnis einer Mahnung gelesen werden: zu
einem vorsichtigen, verantwortungsvollen Umgang mit politischer und militärischer Macht,
Völkern und Staaten, um in Frieden miteinander zu leben. Ebenso gibt es eine Mahnung im
Umgang mit der eigenen Bevölkerung, denn „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“
(Michail Gorbatschow).
Auch wenn in diesem Artikel der Fokus auf Russland gerichtet ist: Für die westliche Welt
gelten diese Mahnungen ebenso!
Quellen
[1]
Lautemann, W./ Schlenke, M.:
Geschichte in Quellen 5: Das
bürgerliche Zeitalter 1815 - 1914
(1980).
[2]
Hagedorn, A.: „Streit über den NATO-
Beitritt von Georgien und Ukraine“, in:
Deutsche Welle (06.03.2008)
[https://p.dw.com/p/DIop].
[3]
Europäische Kommission: Georgien,
Moldawien und Ukraine
[https://ec.europa.eu/taxation_customs/customs-4/international-affairs/third-
countries/georgia-republic-moldova-and-ukraine_de].
[4]
Kurier.de: „Ukrainisches Nachbarland Moldau verhängt Ausnahmezustand“ (24.02.2022)
[https://kurier.at/politik/ausland/ukraines-nachbarland-moldau-verhaengt-
ausnahmezustand/401917633]
Weitere Literatur und Internetseiten
Russische Geschichte
•
Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier Russland
[https://www.bpb.de/themen/europa/russland/]
•
Hildermeier, M.: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution (2013).
•
Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI): Russia
[https://www.sipri.org/research/armaments-and-disarmament/nuclear-weapons/world-
nuclear-forces/russia].
•
Torke, H.-J. (Hg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/ 22 bis 1991 (1993).
•
Torke, H.-J. (Hg.): Lexikon der Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur
Oktoberrevolution (1985).
Geschichtsdeutung
•
Simon, G.: „Russland: Historische Selbstvergewisserung und historische Mythen“, in:
Geschichtsdeutungen im Internationalen Vergleich (2003), S. 61 - 74.
•
Stewart, S.: „Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel
Russlands“, in: Stiftung Wissenschaft und Politik (11.11.2020; doi:10.18449/2020S22)
[https://www.swp-berlin.org/publikation/geschichte-als-instrument-der-innen-und-
aussenpolitik-am-beispiel-russlands]
Russland-Ukraine-Konflikt
•
Bundeszentrale für politische Bildung: Ukraine-Analysen
[https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/?field_date_content=all&field_tags_keywords[
0]=-1&d=1]
•
Tagesschau.de: Nachrichten zum Thema Ukraine
[https://www.tagesschau.de/thema/ukraine/]
•
von Daniels, L. u. a.: „Russischer Angriff auf die Ukraine: Zeitenwende für die euro-
atlantische Sicherheit“, in: Stiftung Wissenschaft und Politik (25.02.2022)
[https://www.swp-berlin.org/publikation/zeitenwende-fuer-die-euro-atlantische-sicherheit]
Autor: Martin Schneider, M. A.
letzte Aktualisierung: 06.03.2022
Zitierempfehlung
Martin Schneider: „Russlands historisches Erbe“, in: Mensch Geschichte Politik (06.03.2022)
[http://www.mensch-geschichte-politik.de/russlands%20historisches%20erbe.htm].
© Martin Schneider 2014 - 2023
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„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft!“
(Wilhelm von Humboldt, 1767 - 1835)
Das russische Staatsterritorium. Die 2014 erfolgte
Annexion der Krim ist völkerrechtlich nicht anerkannt.
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