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„Pulverfass“ Nahost: komplex und kaum kontrollierbar Datum: 08.11.2023 Autor: Martin Schneider, M. A. Lesedauer: ca. 8 Minuten Die Terroranschläge der Hamas, ihr nach wie vor anhaltender Beschuss Israels mit Raketen, sowie die anschließende israelische Militäroffensive im Gazastreifen beherrschen seit dem 7. Oktober 2023 die Nachrichten. Es ist die erneute Eskalation in einem seit über 70 Jahren schwelenden und immer wieder blutig aufbrechenden Konflikt, dessen Lösung in weite Ferne gerückt zu sein scheint. Um was geht es dabei? Wer sind die Akteure des Nahostkonflikts? Und welche Zusammenhänge gibt es zu anderen Krisenregionen der Welt? Inhaltsübersicht 70 Jahre keinen Frieden Israel und die Palästinensischen Autonomiegebiete Staatliche Instabilität, Milizen und Terror Saudi Arabien und der Iran Die USA, Russland und China Volk und Regierungen Fazit Quellen Weitere Literatur und Internetseiten 70 Jahre keinen Frieden Auf israelischer Seite starben im Oktober 2023 durch die Anschläge der Hamas 1.400 Menschen, über 200 wurden von der Terrororganisation in den Gazastreifen entführt. Auf palästinensischer Seite scheinen nach UNO-Angaben (die sich auf das Gesundheitsministerium in Gaza berufen) durch den auf die Anschläge folgende israelischen Militärschlag gegen militärische Stützpunkte der Hamas bislang 9.500 Menschen ums Leben gekommen zu sein. 1,5 Mio. Einwohner des Gazastreifens befinden sich auf der Flucht und 2,2 Mio. Menschen sind von Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten, Strom sowie Treibstoff abgeschnitten [1]. Es dürfte zum Kalkül der Terroristen gehören, angesichts des zu erwartenden israelischen Gegenschlags auf militärische Ziele und der dichten Besiedlung des Gazastreifens zivile Opfer ausdrücklich in Kauf zu nehmen [2]. Damit könnte nicht nur im arabischen Raum, sondern international Empörung gegen Israel geschürt und die Kampfbereitschaft gegen den jüdischen Staat verstärkt werden. Die Angst vor einer möglichen Ausweitung des Krieges ist groß: Parallel zu den Kämpfen in Gaza gibt es Gefechte zwischen israelischen Einheiten und der vom Iran unterstützten Hisbollah an der Grenze zum Libanon. Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah erklärte Anfang November, dass „alle Optionen offen“ seien [3]. Zudem wurden in den letzten Wochen mehrfach US-amerikanische Stützpunkte im Osten Syriens von im Irak agierenden islamistischen Milizen beschossen, die ebenfalls vom Iran unterstützt werden [4]. Die Ereignisse sind der aktuelle, traurige Höhepunkt einer inzwischen über 70 Jahre andauernden Gewaltentwicklung aus Kriegen, Anschlägen, Gegenmaßnahmen und Aufständen im Nahen Osten. Der erste Krieg begann nur einen Tag nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948. Hier musste der noch junge Staat Israel bereits seine Existenz gegen die Streitkräfte der arabischen Nachbarstaaten verteidigen. Israel und die Palästinensischen Autonomiegebiete Das Existenzrecht Israels und die Sicherheit seiner Einwohner stehen von Beginn an im Zentrum des Nahostkonflikts, ebenso der Hauptstadtstatus von Jerusalem. Doch die palästinensische Seite beansprucht Ostjerusalem für sich. Radikale Akteure dieses Konfliktes sprechen dem jüdischen Staat das Existenzrecht ab und streben seine Vernichtung an. Israel verteidigt sich. Sein Militär gehört inzwischen zu den bestausgerüsteten und kampferfahrensten der Region. Zudem ist es nuklear bewaffnet [5]. Genauso zentral ist die Frage nach den Lebensbedingungen und der Sicherheit der Palästinenser, ebenso nach einer Ein- oder Zweistaatenlösung zwischen ihnen und Israel. Zu den palästinensischen Autonomiegebieten gehören der Gazastreifen und Teile des Westjordanlandes. Käme es zu einer Zweistaatenlösung stellt sich die Frage, wo genau die Grenzen verlaufen würden und wie die Sicherheitsinteressen beider Seiten gewährleistet werden können. Auch die Zukunft der international als völkerrechtswidrig eingestuften israelischen Siedlungen im Westjordanland und in Ostjerusalem muss geklärt werden [6]. Im Gazastreifen eroberte 2007 die radikale Hamas in einem Bürgerkrieg gegen die gemäßigtere Fatah-Organisation von Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas die Macht. Letztere regiert seither nur noch im Westjordanland. Während die Fatah inzwischen eine Zweitstaatenlösung zwischen Israelis und Palästinensern anstrebt, ist es nach wie vor das Ziel der Hamas, Israel zu vernichten. Wichtige Förderer der Hamas befinden sich in Katar, Syrien und dem Iran [7]. Staatliche Instabilität, Milizen und Terror Doch der Nahe Osten, die Golfregion und Nordafrika gehören auch zu einem geopolitischen Raum, der aus wirtschaftlicher, politischer und militärischer Sicht enorme Bedeutung besitzt. Wie die Beispiele Libanon und Syrien zeigen, sind nicht alle Staaten der Region politisch stabil. In diesem Machtvakuum existiert eine Vielzahl an Milizen. Während des syrischen Bürgerkrieges weitete die Hisbollah-Bewegung ihre Aktivitäten im Golangebiet gegen Israel aus [8]. Der Libanon befindet sich in einer schweren politischen und wirtschaftlichen Staatskrise. Die Hisbollah ist dort zu einer Art „Staat im Staate“ geworden [9]. Radikale sunnitische und schiitische Akteure – in der Gegnerschaft zu Israel geeint – sind aus religiösen und machtpolitischen Gründen verfeindet. Und obwohl die Terrororganisation des Islamischen Staates in Syrien als militärisch besiegt gilt, verüben einzelne Zellen noch immer Anschläge [10]. Saudi Arabien und der Iran Das wahabitisch-sunnitische Saudi Arabien und der mehrheitlich schiitische Iran sind Rivalen um die Vormachtstellung in der Golfregion. Im Jemen führen sie einen Stellvertreterkrieg. Die humanitäre Lage der jemenistischen Bevölkerung ist katastrophal. Dieser Konflikt ist in mehrfacher Hinsicht für die Ereignisse in Israel und dem Gazastreifen relevant. Denn zum einen scheinen sogar die vom Iran unterstützten jemenitischen Huthi- Rebellen eigene – allerdings erfolglose – Raketenangriffe auf Israel verübt zu haben [11]. Zum anderen befinden sich sowohl Israel als auch Saudi Arabien in einer Konfliktstellung zum Iran, der zudem ein eigenes militärisches Nuklearprogramm betreibt. Vor diesem Hintergrund haben sich Israel und Saudi Arabien unter amerikanischer Vermittlung in den letzten Jahren diplomatisch angenähert. Doch ob diese neue Politik angesichts der aktuellen Gewalteskalation im Gazastreifen auch in Zukunft fortgeführt wird, ist derzeit fraglich [12]. Sollte die Annäherung scheitern, käme dies der iranischen Politik zugute. Die USA, Russland und China Als Unterstützer Israels, aber auch als diplomatischer Vermittler sind auch die USA ein wichtiger Akteur im Nahen Osten. Aus strategischen Gründen verfolgen sie gute wirtschaftliche, politische und militärische Beziehungen zu Israel, das zudem die einzige Demokratie in dieser Region ist. Ebenso besitzen die USA große wirtschaftliche Interessen in der öl- und gasreichen Golfregion, die sie auch militärisch untermauern. Russland hat 2015 nicht nur zur Bekämpfung des Islamischen Staates sondern v. a. zur Sicherung seines Einflusses im Ostmittelmeerraum auf Seiten Baschar-al Assads in den syrischen Bürgerkrieg eingegriffen. Es besitzt gute Kontakte zum Iran. Seit Februar 2022 führt es einen Angriffskrieg gegen die Ukraine, in dem iranische Kampfdrohnen zum Einsatz kommen [13]. Von westlich orientierten Staaten aufgrund des Ukrainekriegs stark sanktioniert, könnte Russland die aktuelle Eskalation im Nahen Osten nutzen, um als Vermittler auf die internationale diplomatische Bühne zurückzukehren. Doch angesichts der militärischen Schwierigkeiten, die Russland aufgrund der westlichen Waffenlieferungen im Ukrainekrieg besitzt, erscheint ein anderes Kalkül derzeit wahrscheinlicher: Denn die Kremlführung unter Wladimir Putin dürfte auf eine mögliche Überdehnung der Kräfte spekulieren, die westlichen Unterstützern sowohl der Ukraine als auch Israels drohen, wenn sie sich in zwei Konfliktregionen gleichzeitig engagieren [14] [15]. Dabei spielen ihm die innereuropäischen Streitigkeiten, aber auch die parteipolitische Spaltung der USA zwischen Demokraten und Republikanern in die Hände. Die Republikaner blockierten erst vor kurzem über mehrere Wochen das US-amerikanische Repräsentantenhaus durch die Abwahl ihres eigenen Speakers, so dass das politische Washington nur bedingt handlungsfähig war. Zudem ist der Streit um das neue amerikanische Haushaltsgesetz aktuell noch immer nicht beigelegt. Es bleibt abzuwarten, welche Rolle darin die Militärhilfe an die Ukraine und an Israel spielen werden. Besonders die Ukrainehilfe wird von republikanischen Politikern inzwischen sehr kritisch gesehen. Betrachtet man die Handelsbeziehungen der Volksrepublik China in die arabische Welt, v. a. aber nach Israel, so kann auch Peking nicht an einer weiteren Eskalation des Nahostkonfliktes interessiert sein. Daher kündigte die chinesische Führung bereits an, den Diplomaten Zhai Jun als Sondervermittler in den Nahen Osten zu entsenden [16]. Doch andererseits könnte der neue Krieg im Gazastreifen auch für die Machtpolitik Chinas von Vorteil sein. Denn mit Blick auf seine eigene aggressive Taiwanpolitik stünden die USA – immerhin Schutzmacht Taiwans – bei einem längeren Konflikt sogar zwischen drei ressourcenintensiven Herausforderungen: der Unterstützung der Ukraine, Israels und Taiwans. Ein ähnliches Szenario könnte der Europäischen Union drohen. Volk und Regierungen Im Nahen Osten, der Golfregion und Nordafrika regieren viele autoritäre Regime, die die Opposition im eigenen Land oder Machtgebiet unterdrücken. Daher muss auch die Frage gestellt werden, inwiefern die jeweilige Bevölkerung tatsächlich hinter der Politik ihrer jeweiligen Führung steht. Fazit Es wird deutlich, dass der Nahostkonflikt eine hohe Komplexität und ein hohes Eskalationspotential besitzt. Seine Auswirkungen reichen nicht nur in den gesamten arabischen Raum hinein, sondern ggf. bis in den russischen Ukrainekrieg und den Konflikt zwischen China und Taiwan. Die Vielzahl der Akteure lässt den Nahostkonflikt als kaum kontrollierbar erscheinen. Israel, das permanent in seiner Existenz bedroht ist, hat sich zudem zu einer Nuklearmacht entwickelt. Und die Führung in Teheran, die Israel das Existenzrecht bestreitet, lässt nach dem Scheitern des Wiener Atomabkommens weiter an einer eigenen Nuklearwaffe forschen. Dies gibt der Situation im Nahen Osten zusätzliche Brisanz. Der Nahostkonflikt ist seit über 70 Jahren gewachsen. Er hat das Leben von Millionen Menschen geprägt und tausende Opfer auf allen Seiten gefordert. Diese humanitäre und politische Katastrophe bedarf dringend einer Lösung. Terrorismus und Krieg tragen nicht dazu bei! Polarisierungen, einseitige Schuldzuschreibungen, Hass und Hetze in der öffentlichen und politischen Diskussion gießen auch in europäischen Ländern nur weiteres Öl ins Feuer! Quellen [1] Vereinte Nationen: „Israel-Palästina: ‚Genug ist genug‘ – UN- Hilfsorganisationen veröffentlichen gemeinsamen Aufruf“ (06.11.2023) [https://unric.org/de/israel-palaestina- genug-ist-genug-un- hilfsorganisationen-veroeffentlichen- gemeinsamen-aufruf/]. [2] Krappitz, Helmi: „‚Wir brauchen das Blut‘: Hamas kalkuliert zivile Opfer in Gaza bewusst ein“, in: Merkur.de (02.11.2023) [https://www.merkur.de/politik/kampfbereitschaft-hamas-logik-kalkulation-opfer- kollateralschaden-zivilisten-krieg-angriffe-israel-zr-92649181.html]. [3] Euronews: „Hisbollah-Chef warnt Israel: ‚Alle Optionen offen‘“ (03.11.2023) [https://de.euronews.com/2023/11/03/hisbollah-chef-nasrallah-warnt-israel-lobt-hamas]. [4] Spiegel Online: „13 Angriffe auf US-Stützpunkte in Syrien und Irak“ (25.10.2023) [https://www.spiegel.de/ausland/pentagon-13-angriffe-auf-us-stuetzpunkte-in-syrien-und- irak-a-9376947e-21cf-4b65-b288-383204579667?sara_ref=re-xx-cp-sh]. [5] Atomwaffen A – Z: Israel. ‚De-Facto‘-Atomwaffenstaat (Dezember 2022) [https://www.atomwaffena-z.info/glossar/begriff/israel]. [6] Kitzler, Jan-Christoph: „Wie Israel in der Siedlungspolitik Fakten schafft“, in: tagesschau.de (18.02.2023) [https://www.tagesschau.de/ausland/israel-siedlungen-westjordanland-103.html]. [7] Ehl, David: „What is Hamas and who supports it?“, in: Deutsche Welle (15.05.2021) [https://www.dw.com/en/who-is-hamas/a-57537872]. [8] Steinberg, Guido: Die ‚Achse des Widerstands‘. Irans Expansion im Nahen Osten stößt an Grenzen (2021) [https://www.swp-berlin.org/publikation/die-achse-des-widerstands]. [9] Blaschke, Björn: „Staat im Staat“, in: tagesschau.de (20.04.2018) [https://www.tagesschau.de/ausland/hisbolla-libanon-101.html]. [10] Redaktionsnetzwerk Deutschland: „Offenbar tödlicher IS-Angriff auf syrische Soldaten“ (11.08.2023) [https://www.rnd.de/politik/syrien-is-attackiert-bus-mindestens-23-soldaten-getoetet- QDO3P2TIKBOOVGPA5LWNVR346Q.html]. [11] Holleis, Jennifer: „Angriffe auf Israel: Huthis im Jemen lassen Muskeln spielen“, in: Deutsche Welle (06.11.2023) [https://p.dw.com/p/4YOpv]. [12] Zeit Online: „Saudi-Arabien stoppt offenbar Gespräche über Normalisierung mit Israel“ (14.10.2023) [https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-10/krieg-nahost-saudi-arabien-normalisierung- israel-gespraechsstopp]. [13] tagesschau.de: „Iran bestätigt Drohnenlieferung“ (05.11.2022) [https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-iran-drohnen-103.html]. [14] Rescheto, Juri: „Israel-Hamas Krieg: Kann Russland profitieren?“ (01.11.2023) [https://p.dw.com/p/4YFtt]. [15] Siemer, Charlotta: „Der Westen könnte vor einem Dilemma stehen“ (27.10.2023) [https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/internationale-politik/id_100268194/israel- konflikt-russland-wie-putin-den-nahen-osten-fuer-sich-nutzen-koennte.html]. [16] Yuan, Dang: „Wo steht China im Israel-Hamas Konflikt?“, in: Deutsche Welle (04.11.2023) [https://p.dw.com/p/4YJp2]. Weitere Literatur und Internetseiten Bundeszentrale für politische Bildung: „Geschichte des Nahostkonflikts“ [https://www.bpb.de/themen/naher-mittlerer-osten/israel/45042/geschichte-des- nahostkonflikts/]. Servicestelle Friedensbildung Baden-Württemberg: „Israel – Palästina (Nahost). Eine Konfliktanalyse aus friedenspädagogischer Sicht“ [https://www.friedensbildung-bw.de/israel-nahostkonflikt]. Stiftung Wissenschaft und Politik: „Krieg in Nahost“ [https://www.swp-berlin.org/fokusthema/krieg-in-nahost]. United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East (UNRWA) [https://www.unrwa.org/]. Zitierempfehlung Martin Schneider: „‚Pulverfass Nahost‘ - komplex und kaum kontrollierbar“, in: Mensch Geschichte Politik (08.11.2023) [http://www.mensch-geschichte-politik.de/pulverfass-nahost-komplex-und-kaum- kontrollierbar.htm].
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„Pulverfass“ Nahost: komplex und kaum kontrollierbar
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