Keine Kürzungen bei der politischen Bildung!
Datum:
29.08.2023
Autor:
Martin Schneider, M. A.
Lesedauer:
ca. 6 Minuten
Der aktuelle Haushaltsentwurf der Bundesregierung für 2024 sieht Einsparungen von 30 Mrd.
Euro vor, um die Schuldenbremse des Grundgesetzes einzuhalten. Betroffen ist davon auch
die politische Bildung. Doch gerade in Krisenzeiten mit einem abnehmendem Vertrauen der
Bevölkerung in die Demokratie droht dadurch eine verheerende gesellschaftspolitische
Weichenstellung.
Inhaltsübersicht
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Keine Einzelfälle
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Zufriedenheit und Vertrauen sinken
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Prekäre Kürzungen
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Quellen
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Weitere Literatur und Internetseiten
Keine Einzelfälle
Am 29. August 2020 durchbrachen in
Berlin mehrere hundert Personen bei
einer Demonstration gegen die Corona-
Maßnahmen die Polizeiabsperrungen
und stürmten die Treppe des
Reichstags. Darunter befanden sich
Rechtsextreme, Reichsbürger und
Selbstverwalter [1] mit mindestens einer
Reichskriegsflagge [2]. Die Aktion wird
oft als „Sturm auf den Reichstag“
bezeichnet. Ins Gebäude – und damit in den Sitz des Deutschen Bundestages – kamen die
Beteiligten zum Glück nicht. Dies gelang jedoch im November 2020 mehreren Personen, die
anschließend Abgeordnete bedrängten. Sie hatten als Besucher zweier AfD-Politiker offiziell
Zutritt erhalten [3].
Wir leben in einer Zeit vielfältiger politischer und gesellschaftlicher Krisen. Sie rufen große
Verunsicherungen der Bevölkerung hervor und machen anfällig für Populismus, Extremismus,
Fake News und Verschwörungsideologien. Resultat ist eine vielstimmige Kakophonie
zwischen Angst und Wut, zwischen „Coronadiktatur“, einer angeblichen jüdischen
Weltverschwörung oder der rassistischen Verschwörungserzählung von einem „großen
Bevölkerungsaustausch“ [4] [5]. Die deutsche Fußballnationalmannschaft wird von manchen
aufgrund des Migrationshintergrundes einiger Spieler als nur noch „passdeutsche
Nationalmannschaft“ diffamiert [6]. Reichsbürgern gilt die Bundesrepublik Deutschland nicht
als souveräner Staat. Sie besitze angeblich auch keine Verfassung, sondern „nur“ ein
Grundgesetz. Die Delegitimierung staatlicher Institutionen und ihrer Handlungen hat
Konjunktur [7]. Und am 7. Dezember 2022 wurde eine Gruppe aus dem Reichsbürgermilieu
um Heinrich XIII. Prinz Reuß festgenommen, die einen gewaltsamen Umsturz geplant haben
soll. Zu den Verhafteten zählen auch ehemalige Soldaten sowie eine ehemalige
Bundestagsabgeordnete der AfD, die selber Richterin ist [8]. Die Ermittlungen laufen [9].
Die Auflistung lässt sich fortsetzen. Es sind keine „Einzelfälle“ oder „nur“ die verschrobenen
Ideen Ewiggestriger. Vielmehr zeigen sich hier die extremen Spitzen einer verheerenden
gesellschaftlichen Entwicklung, die auch vom Verfassungsschutzbericht 2022 untermauert
wird. Er verzeichnet einen Höchststand von 35.452 extremistischen Straftaten [6]. Verglichen
mit der bereits sehr hohen Zahl für 2021 ist sie nochmals um 1.976 Fälle angestiegen. Dem
rechts- und linksextremistischen Spektrum, den Gruppen der sogenannten Reichsbürger und
Selbstverwalter, Islamisten sowie dem Spektrum auslandsbezogener Extremisten werden in
dem Bericht insgesamt 155.530 Personen zugerechnet. Die in vielen Parlamenten vertretene
AfD stuft der Bundesverfassungsschutz als rechtsextremen Verdachtsfall ein (wogegen sich
die Partei juristisch zur Wehr setzt) [6].
Zufriedenheit und Vertrauen sinken
Die deutsche Demokratie droht in schwieriges Fahrwasser zu geraten, da ihr die Unterstützer
abhanden kommen. Denn die Zufriedenheit mit ihr erscheint einer aktuellen Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung zufolge verheerend. Auf die Frage „Wie zufrieden sind Sie alles in
allem mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert?“ antworteten
51,3% – über die Hälfte der Befragten (!) – dass sie „weniger“ oder „überhaupt nicht
zufrieden“ seien. Dagegen gaben nur 48,7% an, „ziemlich“ oder „sehr zufrieden“ zu sein [10].
Die Körber-Stiftung fragte im Sommer 2023 direkt nach dem Vertrauen in die Demokratie.
Das Ergebnis: Nur 43% der Befragten besitzen noch ein „sehr großes/ großes“ Vertrauen in
sie. Dagegen gaben allerdings 54% an, dass sie nur noch ein „weniger großes/ geringes“
Vertrauen haben [11]!
Sinkende Zufriedenheit und sinkendes Vertrauen besitzen viele Ursachen, denen die Studien
ebenfalls nachgehen [10] [11]. Zwar gibt es kein Patentrezept, das verlorene Vertrauen
zurückzugewinnen, doch in beiden Befragungen wird von den Teilnehmerinnen und
Teilnehmern die Forderung nach größerer politischer Partizipation gestellt. So kritisieren in
der Studie der Friedrich-Ebert Stiftung 68,2%, dass es jenseits von Wahlen „nicht genügend
Beteiligungsmöglichkeiten“ für die Bürgerinnen und Bürger gebe [10]. In der Körber-Studie
sprechen sich 86% für eine stärkere Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger bei wichtigen
Fragen aus [11].
Prekäre Kürzungen
Wenn Partizipation nicht aus dem Bauch heraus erfolgen soll, ist politische Bildung
unabdingbar. Diese ist zudem ein wesentliches Mittel zur Aufklärung und Prävention
gegenüber Populisten, Extremisten und Verschwörungsideologen. Sie schafft Bildungs- und
Aufklärungsangebote, gibt Orientierungshilfen, fördert Konfliktfähigkeit, Toleranz und
gesellschaftspolitischen Pluralismus.
Doch gerade der politischen Bildung droht im aktuellen Haushaltsentwurf der
Bundesregierung aus SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen eine drastische finanzielle
Kürzung. Denn das Budget der Bundeszentrale für politische Bildung soll 2024 von 96 Mio.
Euro auf nur noch 76 Mio. Euro reduziert werden [12]. Das entspricht einer Kürzung um 20%,
die sich negativ auf die Bildungsarbeit der Institution, bzw. auf die von ihr geförderten Projekte
auszuwirken droht [13].
Die Kürzungsabsichten widersprechen nicht nur dem 2021 im Koalitionsvertrag der Ampel-
Regierung festgehaltenen Ziel, die Mittel für die politische Bildung zu erhöhen. Sie sind
angesichts der schwierigen gesellschaftspolitischen Situation auch nicht zu rechtfertigen und
haben inzwischen breite politische und gesellschaftliche Kritik hervorgerufen [14] [15] [16]
[17].
Besonders in einer Zeit, in der sich die Akzeptanz der demokratischen und rechtsstaatlichen
Ordnung in Deutschland in einem äußerst labilen Zustand befindet, Demokratie und
Rechtsstaat immer wieder angegriffen werden, stellen Kürzungen im Bereich der politischen
Bildung völlig falsche Weichen! Denn politische Bildung ist Bestandteil einer „wehrhaften
Demokratie“, wie übrigens auch das Bundesministerium des Inneren auf seiner Homepage
völlig zurecht schreibt [18]. Doch sie ginge geschwächt aus dem Sparkurs hervor. Daher
müssen die Kürzungen unbedingt verhindert werden!
Quellen
[1]
Deutscher Bundestag: Beteiligte am
„Sturm auf den Reichstag“
(07.06.2023)
[https://www.bundestag.de/presse/
hib/kurzmeldungen-951842].
[2]
Euronews: „Sturm auf Reichstag“:
Nazi-Flaggen und QAnon-Anhänger
in Berlin (30.08.2020)
[https://de.euronews.com/
2020/08/30/nazi-flaggen-und-qanon-
anhanger-bei-corona-protesten-in-berlin].
[3]
Deutscher Bundestag: Fünf Fraktionen verurteilen Verhalten von AfD-Gästen im
Bundestag (20.11.2020)
[https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw47-de-akt-std-bedraengung-
mdb-807720].
[4]
Bundesamt für Verfassungsschutz: Grosser Austausch
[https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/glosaareintraege/DE/G/grosser-
austausch.html].
[5]
Belltower News: Grosser Austausch
[https://www.belltower.news/lexikon/grosser-austausch/].
[6]
Bundesministerium des Innern und für Heimat: Verfassungsschutzbericht 2022 (2023)
[https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/verfassungsschutzberi
chte/2023-06-20-verfassungsschutzbericht-2022.html].
[7]
Bundesamt für Verfassungsschutz: Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des
Staates
[https://www.verfassungsschutz.de/DE/themen/verfassungsschutzrelevante-
delegitimierung-des-staates/verfassungsschutzrelevante-delegitimierung-des-
staates_node.html].
[8]
Hemmerling, Axel u. a.: „Großrazzia: Gruppe soll Staatsumsturz geplant haben -
Reußen-Prinz in Haft“, in: mdr.de (08.12.2022)
[https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/ost-thueringen/saale-orla/razzia-umsturz-
verschwoerung-reuss-100.html].
[9]
Zeit Online: „Reichsbürgergruppe um Prinz Reuß verfügte über Hunderte Waffen“
(25.08.2023)
[https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-08/reichsbuerger-gruppe-prinz-reuss-
waffenfund?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F].
[10]
Best, Volker u. a.: Demokratievertrauen in Krisenzeiten. Wie blicken die Menschen in
Deutschland auf Politik, Institutionen und Gesellschaft? (2023)
[https://www.fes.de/studie-vertrauen-in-demokratie].
[11]
Körber-Stiftung: Deutsche verlieren Vertrauen in ihre Demokratie
[https://koerber-stiftung.de/projekte/staerkung-der-demokratie/vertrauensverlust-in-die-
demokratie/].
[12]
Deutscher Bundestag: Drucksache 20/7800. Entwurf eines Gesetzes über die
Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 2024 (Haushaltsgesetz
2024 – HG 2024) (19.08.2023)
[https://dserver.bundestag.de/btd/20/078/2007800.pdf].
[13]
tagesschau.de: Kritik an geplanter Etatkürzung (05.08.2023).
[https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/bundesetat-politischebildung-kuerzung-
100.html].
[14]
Amadeu Antonio Stiftung: Amadeu Antonio Stiftung unterstützt offenen Brief zu
geplanten Kürzungen bei politischer Bildung (23.10.2023).
[https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/amadeu-antonio-stiftung-unterstuetzt-offenen-
brief-zu-geplanten-kuerzungen-bei-politischer-bildung-103531/].
[15]
Campact: Kein Sparkurs bei politischer Bildung – demokratische Brandmauer halten!
[https://weact.campact.de/petitions/kein-sparkurs-bei-politischer-bildung-kein-ende-der-
bildungspolitischen-brandmauer].
[16]
ntv.de: Scharfe Kritik an Kürzungen bei politischer Bildung (05.08.2023)
[https://www.n-tv.de/politik/Scharfe-Kritik-an-Kuerzungen-bei-politischer-Bildung-
article24307419.html].
[17]
ZDF: Esken: Politische Bildung "nicht rasieren" (13.08.2023)
[https://www.zdf.de/nachrichten/politik/bundeszentrale-politische-bildung-etat-kuerzung-
saskia-esken-100.html].
[18]
Bundesministerium des Inneren und für Heimat: Politische Bildung
[https://www.bmi.bund.de/DE/themen/heimat-integration/gesellschaftlicher-
zusammenhalt/politische-bildung/politische-bildung-node.html].
Weitere Literatur und Internetseiten
•
Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten e. V.: Haushaltsentwurf 2024 des Bundes:
drastische Kürzungsabsichten bei politischer Bildung
[https://adb.de/aktuelles/pressespiegel-haushaltsentwurf-2024-kuerzungsabsichten].
•
Bundeszentrale für politische Bildung
[https://www.bpb.de/].
•
Politische Bildung
[https://www.politische-bildung.de/].
Zitierempfehlung
Martin Schneider: „Keine Kürzungen bei der politischen Bildung!“, in: Mensch Geschichte
Politik (29.08.2023)
[http://www.mensch-geschichte-politik.de/keine-kuerzungen-bei-politischer-bildung.htm].
© Martin Schneider 2014 - 2023
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„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft!“
(Wilhelm von Humboldt, 1767 - 1835)
Keine Kürzungen
bei der politischen
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