Droht ein russischer Atomschlag?
Datum:
29.09.2022
Autor:
Martin Schneider, M. A.
Lesedauer:
ca. 13 Minuten
Die Drohung des russischen Präsidenten Wladimir Putin vom 21. September 2022 war
deutlich: „Wenn die territoriale Integrität unseres Landes bedroht wird, werden wir zum Schutz
Russlands und unseres Volkes unbedingt alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen. Das ist
kein Bluff“ (zit. nach [1]). Vom 23. bis 27. September führte Russland dann Referenden in den
von seinen Truppen und verbündeten Milizen besetzten ukrainischen Gebieten Donezk,
Luhansk, Cherson und Saporischschja durch. Zur Abstimmung stand die Frage, ob sich die
Territorien Russland anschließen sollen. Doch die Referenden werden international als
völkerrechtswidrig kritisiert. Bereits am 28. September wurden ihre angeblichen Ergebnisse
verkündet: Sie fielen erwartungsgemäß hoch für einen Anschluss an Russland aus. Doch
viele Staaten und die Ukraine akzeptieren sie nicht.
Sollte Russland diese Gebiete – wie angekündigt – in einem nächsten Schritt annektieren und
damit zu seinem eigenen Staatsgebiet erklären, wären Rückeroberungsversuche ukrainischer
Truppen nach Moskauer Lesart ein Angriff auf die von Putin genannte „territoriale Integrität“
Russlands (das seinerseits die territoriale Integrität der Ukraine verletzt). Würde Putin
angesichts der von ihm und seinem Vertrauten, dem ehemaligen russischen Präsidenten
Dimitri Medwedew [2] ausgesprochenen Drohungen, dann tatsächlich auch Atomwaffen
einsetzen, um einen Angriff abzuwehren? Die Lage ist äußerst ernst und darf nicht
unterschätzt werden. Gefühlt war die Welt seit der Kubakrise 1962, der SS 20-Stationierung
und dem NATO-Doppelbeschluss der 1970er Jahre oder seit dem NATO-Manöver „Able
Archer“ 1983 nie so nah an einem nuklearen Konflikt wie heute [3]. Wie sind die Drohungen
einzuschätzen?
Inhaltsübersicht
•
Völkerrechtswidrige Referenden
•
Schnelle Annexionen
•
Von der „Militärischen Spezialoperation“ in den Krieg?
•
Nukleare Drohungen
•
Wer wird atomar bedroht?
•
Westliche Reaktionen auf einen Atomschlag
•
Wie wahrscheinlich ist der Einsatz von Atomwaffen?
•
Quellen
•
Weitere Literatur und Internetseiten
Völkerrechtswidrige Referenden
Es ist keine Überraschung, dass die Menschen in den vier Gebieten mit großer Mehrheit für
einen Anschluss an Russland votiert haben sollen. Die von der russischen Besatzungsmacht
verkündeten Zahlen entsprechen in ihrer Höhe den Ergebnissen, wie man sie von Wahlen in
Diktaturen kennt: Insgesamt sollen 93% für eine Angliederung an Russland gestimmt haben
[4]. In pluralistischen Demokratien wären diese exorbitanten Werte in freien, gleichen und
fairen Abstimmungen kaum denkbar.
Verfassungsbruch
Zwar dürften diejenigen Einwohner, die vor dem russischen Einmarsch geflohen sind,
mehrheitlich der Ukraine zuneigen, sind aber natürlich nicht mehr vor Ort, um ihre Stimme
abzugeben. Außerdem versuchten viele Menschen Medienberichten zufolge, sich der
Abstimmung aus Angst zu entziehen. Die Gründe liegen in befürchteten russischen
Repressalien, aber auch in einer ukrainischen Strafverfolgung, da die Regierung in Kiew die
Teilnahme an der Abstimmung als Straftat wertet [5]. Denn laut ukrainischer Verfassung (Art.
72 und 73) muss über Gebietsveränderungen in einem gesamtukrainischen Referendum
entschieden werden und es ist ausschließlich die Regierung in Kiew, die Abstimmungen
ansetzen darf [6] [7].
Bruch des Völkerrechts
Völkerrechtler weisen zudem darauf hin, dass der russische Angriff auf die Ukraine ein klarer
Bruch des Völkerrechts war und daher auch alle russischen Folgehandlungen inklusive der
Durchführung von Referenden als völkerrechtswidrig gelten. Zudem kann nicht auf das
Selbstbestimmungsrecht der Völker zurückgegriffen werden, um die Abstimmungen zu
legitimieren, da es nur bei Menschenrechtsverletzungen ein Recht auf Abspaltung von einem
Staat vorsieht. Dieses Kriterium ist in der Ostukraine allerdings nicht erfüllt. Angesichts des
russischen Einmarsches, des andauernden Krieges und der Besatzung der betroffenen
Gebiete kann auch kaum von einer Selbstbestimmung gesprochen werden. Vielmehr fand die
Abstimmung unter dem Druck der Fremdbestimmung statt. Viele Menschen, die sich ihr nicht
entziehen konnten, stimmten offensichtlich auch deshalb für Russland, weil sie sonst
Repressionen für sich und ihre Familien befürchteten [6] [8] [9] [10]. Unter diesen
Bedingungen sind Manipulationsmöglichkeiten Tür und Tor geöffnet. Und die Zeit zwischen
Anordnung und Durchführung der Referenden war zu kurz, um einen gesellschaftspolitischen
Diskurs über die zu entscheidende Frage zu führen. Erwünscht wäre er auch nicht gewesen.
Aus diesen Gründen werden die Abstimmungen international sowohl als Bruch der
ukrainischen Verfassung, als auch als erneuter russischer Verstoß gegen das Völkerrecht
gesehen. Sowohl die Europäische Union als auch die G7-Staaten haben bereits deutlich
gemacht, dass sie die Referenden und eine sich möglicherweise anschließende Annexion der
Gebiete durch Russland nicht anerkennen [4] [11] [12]. Doch die Regierung in Moskau stört
das nicht.
Schnelle Annexionen
Die vom Westen ausgerüsteten
ukrainischen Streitkräfte hatten in den
vergangenen Wochen große Erfolge bei
der Rückeroberung ihrer Gebiete erzielt
und russische Truppen zum Rückzug
gezwungen. Vor diesem Hintergrund
waren die Referenden eilig angesetzt
worden. Putin hatte schon vor der
Durchführung die Aufnahme der Territorien
in den russischen Staat in Aussicht gestellt
[5].
Sicherung der Gebietsgewinne
Ziel ist es offensichtlich, zumindest diese
Gebietsgewinne zu sichern, indem man sie
als eigenes Staatsgebiet unter einen
höheren Schutzstatus stellt. Die Botschaft ist, dass bei einem Angriff dann auch Waffen
eingesetzt würden, die in der Ukraine noch nicht zum Einsatz kamen. Entsprechend den
Drohungen schließt das Atomwaffen ausdrücklich mit ein.
Die durch die Referenden nur scheinbar legitimierten Annexionen fremden Territoriums
verlaufen nach dem gleichen Schema wie die 2014 ebenfalls völkerrechtswidrig erfolgte
Einverleibung der Halbinsel Krim [10]. Akzeptiert wird sie bis heute nur von wenigen
russlandfreundlichen Staaten. Auch die mögliche Annexion von Donezk, Luhansk, Cherson
und Saporischschja wird auf breite internationale Ablehnung stoßen. Während es
ursprünglich hieß, dass das von Putins Partei Einiges Russland dominierte russische
Parlament am 3. und 4. Oktober 2022 über ihren Fall entscheiden wolle [13], scheint Putin
den Annexionstermin nun vorgezogen zu haben und möchte die Verträge bereits am 30.
September in Moskau unterschreiben. Diese Entwicklung unterstreicht einmal mehr den
Zeitdruck, der hinter den Referenden und Annexionen steht [14]. Dabei dürfte es auch darum
gehen, der russischen Bevölkerung vermeintliche Erfolge zu präsentieren.
Von der „Militärischen Spezialoperation“ in den Krieg?
Kein Beobachter zweifelt daran, dass es sich bei den schrecklichen Ereignissen in der
Ukraine um einen Krieg handelt. Doch in Russland steht der Gebrauch des Wortes in diesem
Zusammenhang unter Strafe, stattdessen hat die Kreml-Propaganda dafür den Begriff der
„Spezialoperation“ geprägt. Wer trotzdem von einem Krieg in der Ukraine spricht, muss mit
hohen Haftstrafen rechnen [15].
Militärische Schwierigkeiten
Spätestens seit der am 21. September
angeordneten Teilmobilmachung bleibt es
der russischen Bevölkerung aber nicht
mehr verborgen, dass die angebliche
„Spezialoperation“ – der Krieg – nicht so
verläuft, wie es die Kreml-Strategen
geplant hatten. Allerdings benötigt man für
eine „Spezialoperation“ keine
Mobilmachung von 300.000 Reservisten,
für einen Krieg dagegen schon. Doch die
russische Führung kann selber nicht von
einem Krieg sprechen, ohne ihre eigenen
Propagandavorgaben zu brechen. Sollte
es dagegen nach einer Annexion der Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja
tatsächlich zu einem Angriff ukrainischer Truppen kommen, um sie zurückzuerobern, würde
es sich in der Interpretation des Kreml um russisches Staatsgebiet handeln. Bislang hält der
ukrainische Präsident Wolodomyr Selensky an der Rückeroberung fest und schließt
Verhandlungen im Falle von russischen Annexionen aus [16].
Droht eine Eskalation?
Für den Kreml wäre es damit einfach, den Verteidigungsfall auszurufen, womit auch die
öffentliche Verwendung der Vokabel „Krieg“ kein Problem mehr sein würde. Erster Schritt für
einen Wechsel von der „Spezialoperation“ zum Krieg war die Teilmobilisierung [17] [18].
Damit aber stehen die Zeichen insgesamt auf Eskalation.
Sollte ein Angriff zur Befreiung auf die von Russland dann annektierten ukrainischen Gebiete
tatsächlich erfolgen, könnte die Kreml-Propaganda zudem versuchen, sich als Opfer einer
ukrainischen und westlichen Aggression zu stilisieren. Gegenüber der eigenen Bevölkerung
wäre dies ein wichtiger Schritt zur Mobilisierung und Konzentration der
Verteidigungsressourcen. Ob die Bevölkerung dies allerdings angesichts von Protesten und
Massenflucht, zu der schon die Teilmobilisierung geführt hat [19], mitmachen würde, ist
fraglich. Und international erscheinen Ansehen und Glaubwürdigkeit der Kreml-Führung
inzwischen zu sehr geschädigt, als dass sie mit diesen Schachzügen Erfolg haben dürfte.
Nukleare Drohungen
Schon während der Krim-Annexion 2014 und zu Beginn seines Überfalls auf die Ukraine im
Februar 2022 hatte Putin die russischen Atomstreitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt
[20]. Somit sind atomare Drohungen in diesem Konflikt nicht neu. Vermutlich hatte Putin aber
wohl nie vor, diese Waffen auch tatsächlich gegen den Westen einzusetzen. Denn er weiß,
dass sie den nuklearen Gegenschlag provozieren würden, der Russland ebenfalls vernichtet.
Wie schon 2014 rechnete Putin vermutlich auch 2022 damit, dass NATO und Europäische
Union – deren Mitgliedschaften die Ukraine anstrebt – stillhalten und ihn gewähren lassen
würden. Doch darin hatte er sich gründlich verschätzt. Vielmehr ist der Fall eingetreten, dass
sich der Westen neben (für beide Seiten) schmerzhaften wirtschaftlichen Sanktionen eben
doch direkt in den Krieg einmischt: zwar nicht mit eigenen Soldaten, aber mit Geld und vor
allem mit Waffenlieferungen. Der Ukrainekrieg ist somit zum Stellvertreterkrieg um Werte,
Interessen und Einflusszonen geworden. Doch obwohl die westlichen Waffenlieferungen den
russischen Truppen schwer zusetzen und das Vorrücken der ukrainischen Streitkräfte
ermöglichen – der Westen somit klar als Gegner auftritt – blieb es in Moskau bei Drohungen,
Sanktionen und einer ausgedehnten hybriden Kriegführung wie Desinformation und der
Reduktion von Erdgaslieferungen. Der Einsatz von Atomwaffen durch Russland fand nicht
statt. Denn die Logik der gegenseitigen Abschreckung gilt nach wie vor: Wer zuerst schießt,
stirbt als zweiter. Das ist auch Putin bewußt. Doch die offenbar bevorstehenden Annexionen
und die aktuellen nuklearen Drohungen könnten die Situation auf eine neue, verheerende
Eskalationsstufe heben.
Wer wird atomar bedroht?
Die aktuellen russischen Drohungen
richten sich sowohl gegen die
ukrainischen Truppen, als auch gegen ihre
westlichen Unterstützer in der NATO
sowie in der Europäischen Union. Doch
das Risiko, Opfer eines russischen
Nuklearschlags zu werden, ist
unterschiedlich verteilt. Denn es wären
gegebenenfalls keine NATO-Truppen, die
versuchen würden, die von Russland
annektierten Gebiete zurückzuerobern,
sondern ukrainische. Doch die Ukraine
besitzt im Gegensatz zur NATO keine
eigenen Atomwaffen, die sie zum
Gegenschlag befähigen.
Einsatz taktischer Nuklearwaffen?
Westliche Militärexperten haben in den
vergangenen Wochen und Monate den
Einsatz sogenannter taktischer Atomwaffen im Ukrainekrieg nicht ausgeschlossen [21] [22].
Zwar besitzen diese Waffen nicht die gleiche Sprengkraft wie herkömmliche Atombomben.
Doch auch sie hätten verheerende Folgen, würden unzählige zivile und militärische Opfer
fordern und Gebiete radioaktiv verseuchen.
Ukraine und der Westen werden bedroht
Da die Ukraine allerdings keinen Gegenschlag durchführen könnte und auch nicht unter dem
Schutzschirm eines anderen Staates oder Bündnisses steht, erscheint das Risiko für
Russland geringer – abgesehen davon, das sich das Land und seine Führung endgültig der
internationalen Ächtung aussetzen würden. Somit trägt die Ukraine ein ungleich höheres
Risiko, tatsächlich Opfer eines atomaren Angriffes zu werden, als die EU- und NATO-Staaten.
Da der Westen weiterhin Waffen liefert, die sich als äußerst effektiv erwiesen haben und
sicher auch bei einer versuchten Rückeroberung annektierter ukrainischer Gebiete zum
Einsatz kämen, richtet sich die nukleare Drohung des Kreml natürlich auch gegen den
Westen. Doch die Konsequenzen eines Angriffs sind der russischen Führung im Kreml
bewußt, weshalb ein Angriff auf NATO-Gebiet äußerst unwahrscheinlich erscheint.
Demonstrationsschlag?
Doch es besteht eine weitere Option. So könnte von Russland ein sogenannter
Demonstrationsschlag mit einer über internationalem Gebiet wie der Ostsee oder dem
Schwarzen Meer detonierenden Nuklearwaffe durchgeführt werden [23]. Zwar würden Winde
und Regen die radioaktive Strahlung verbreiten, womit immense Gefahren für die
Bevölkerungen der Anrainerstaaten bestünden. Doch die Detonation fände nicht direkt über
dem Gebiet eines Staates statt. Ziel einer solchen Aktion wäre es, die Ernsthaftigkeit der
russischen Drohungen quasi durch ein allerletztes Warnsignal zu untermauern. Die
internationale Empörung wäre groß, aber sicher auch die Angst und Panik in den bedrohten
Bevölkerungen vor irrationalen Entscheidungen im Kreml.
Gefahr durch Kernkraftwerke?
An dieser Stelle sei angefügt, dass eine
atomare Eskalationsgefahr jedoch noch in
ganz anderer Hinsicht besteht, wie die
berechtigten Sorgen um das immer wieder
beschossene ukrainische Atomkraftwerk
Saporischschja zeigen [24]. Moskau weist
die Verantwortung für den Beschuss der
von russischen Truppen besetzten Anlage
zurück. Die Ukraine besitzt insgesamt 5
Atomkraftwerke: Chmelnyzkyj, Riwne,
Saporischschja, Süd-Ukraine und
Tschernobyl. Durch gezielten oder auch
versehentlichen Beschuss geht von ihnen
Kriegszeiten ein erhebliches
Gefahrenpotential aus.
Westliche Reaktionen auf einen Atomschlag
Sollte Putin in irgendeiner Form Atomwaffen einsetzen, würde sich Russland international
endgültig isolieren. Die Weltgemeinschaft hat kein Interesse an einer atomaren Eskalation.
Dazu zählen auch Staaten wie China oder Indien, zu denen Russland angesichts der
schwerwiegenden westlichen Sanktionen bislang gute Beziehungen pflegt.
Druck auf den Westen
Bei einem atomaren Angriff auf die Ukraine, muss aber auch der Westen reagieren.
Grundlegend würde sich für Europa und die USA die Frage stellen, ob sie die Ukraine in
ihrem Kampf weiterhin militärisch unterstützen. Oder ziehen sie sich zurück und drängen auf
eine Verhandlungslösung?
Im Kontext des Ukrainekrieges befinden sich NATO und EU bereits in einer Zerreissprobe:
Wie kann die Ukraine unterstützt werden, ohne eine Ausweitung des Krieges auf NATO-
Gebiet zu provozieren? Angesichts verständlicher Ängste in den Bevölkerungen vor
möglicherweise irrationalen Entscheidungen in Moskau und vor einem Atomkrieg, würde die
Zerreißprobe noch größer. Wie stünde es dann um die ohnehin schon brüchige Einigkeit?
Moskau könnte darauf spekulieren, dass die Regierungen ihre harte Haltung gegenüber
Russland unter der Angst und dem gesellschaftspolitischen Druck ihrer Bevölkerungen
aufgeben. Denn warum sollte man sich weiterhin in einen Krieg einmischen, wenn man dabei
unnötigerweise selbst Gefahr läuft, vernichtet zu werden?
Ein neuer Spaltungsversuch?
Dieses Szenario erinnert an die Logik der SS 20-Stationierung in den 1970er Jahren, als die
Sowjetunion unter Leonid Breschnew versuchte, die NATO zu spalten. Denn warum sollten
die geographisch weit entfernten USA das europäische Bündnisgebiet verteidigen, wenn sie
selber durch die SS 20-Mittelstreckenraketen doch gar nicht bedroht werden, sich aber durch
ihren militärischen Beistand der tödlichen Gefahr durch sowjetische Interkontinentalraketen
aussetzen. Allerdings ging die sowjetische Strategie damals nicht auf, sondern führte zum
NATO-Doppelbeschluss von 1979 [25].
Folgen eines westlichen Rückzugs
Würde sich der Westen 2022 angesichts atomarer Drohungen aber tatsächlich aus dem
Ukrainekrieg zurückziehen, so hätte es Russland auf absehbare Zeit wieder leichter, die
ukrainischen Truppen zu besiegen. Würde man Moskau die atomare Erpressung stattdessen
durchgehen lassen, wäre es das Eingeständnis westlicher Macht- und Hilflosigkeit – und ein
fatales Signal an autoritäre Regime, die über Massenvernichtungswaffen verfügen.
Drohungen der USA
Zwar wurden inzwischen Warnungen seitens der USA an Russland veröffentlicht, doch
erscheinen sie genauso unpräzise und interpretationsbedürftig wie manche russischen
Drohungen. Jake Sullivan, der Nationale Sicherheitsberater der US-Regierung, wird mit den
Worten zitiert: „Russia understands very well what the US would do in response to the use of
nuclear weapons in Ukraine because we have spelled it out for them“ [26]. Klar ist dies die
Androhung schwerer Konsequenzen, doch was genau beinhalten sie? Aufgrund der
Vernichtungslogik eines Atomkrieges erscheint auch ein nuklearen Schlag der USA
unwahrscheinlich.
Wie wahrscheinlich ist der Einsatz von Atomwaffen?
Der Einsatz dieser Waffen kann zumindest nicht ausgeschlossen werden. Sofern die
Gegenschlagsfähigkeit der NATO nicht sabotiert wird und im Kreml aller westlichen Ängste
und Feindbilder zum Trotz rationale militärische Entscheidungen getroffen werden, ist der
Angriff auf ein NATO-Mitglied jedoch sehr unwahrscheinlich. Das Risiko der Ukraine, Opfer
eines atomaren Angriffs zu werden, erscheint dagegen ungleich größer.
Doch je mehr Russland in diesem Krieg weiter in die Defensive gedrängt wird, könnte die
Gefahr irrationaler Handlungen der Kreml-Führung steigen, die den Krieg weiter eskalieren
lassen. Die ersten Schritte für eine Eskalation sind durch die Teilmobilisierung, die
Referenden und die in Aussicht gestellten Annexionen bereits getan.
Doch ist bei solchen Analysen Vorsicht geboten. Denn die Einschätzung hängt immer davon
ab, als wie rational die Entscheidungen der Kremlführung, bzw. Putins und seiner Vertrauten
eingeschätzt werden. Je weniger Rationalität man ihnen zugesteht, desto wahrscheinlicher
wird der Einsatz nuklearer Waffen [27]. Doch Putin ist als eiskalter, berechnender Stratege
bekannt. Zumindest derzeit spricht noch nichts dafür, dass er seine Fähigkeit zum rationalen
Handeln verloren hat. Allerdings stehen Putin und sein Regime aufgrund der Niederlagen
russischer Truppen inzwischen auch mit dem Rücken zur Wand. Das Regime ist international
fast isoliert und die Proteste gegen die Teilmobilmachung zeigen, dass es auch in Russland
unter Druck gerät. In diesem Kontext erscheinen irrationale Handlungen auch nicht
ausgeschlossen.
Quellen
[1]
Sueddeutsche.de: „Putin: Russland mit
"allen verfügbaren Mitteln" verteidigen“
(21.09.2022)
[https://www.sueddeutsche.de/politik/
konflikte-putin-russland-mit-allen-
verfuegbaren-mitteln-verteidigen-
dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-
220921-99-842083].
[2]
Munk, S.: „Putin-Vertrauter Medwedew
poltert erneut: ‚Russland hat das Recht,
Atomwaffen einzusetzen‘“, in: Merkur.de (28.09.2022)
[https://www.merkur.de/politik/medwedew-ukraine-news-putin-vertrauter-atomwaffen-
nuklear-drohung-telegram-westen-nachricht-91814962.html].
[3]
Greiner, B./ Müller, Chr. Th./ Walter, D. (Hg.): Krisen im Kalten Krieg (2009).
[4]
ORF: „Scheinreferenden mit erwarteten Zahlen“ (27.09.2022)
[https://orf.at/stories/3287173/].
[5]
Merkur.de: „Kiew: Strafe bei Abstimmungsbeteiligung bei Scheinreferenden“ (21.09.2022)
[https://www.merkur.de/politik/kiew-strafe-bei-abstimmungsbeteiligung-bei-
scheinreferenden-91801941.html].
[6]
Scheel, O.: „Ukraine: Darum sind die Scheinreferenden illegal“, in: wdr.de (23.09.2022)
[https://www1.wdr.de/nachrichten/russland-referendum-ukraine-voelkerrechtswidrig-
100.html].
[7]
Verfassungen.net: Verfassungen der Ukraine. Verfassung vom 28. Juni 1996
[http://www.verfassungen.net/ua/verf96-i.htm].
[8]
Rzheutska, L./ Anastasia, S.: „Besetzte ukrainische Gebiete: ‚Abstimmung‘ mit
vorgehaltenen Gewehren“, in: Deutsche Welle (28.098.2022)
[https://p.dw.com/p/4HTVA].
[9]
Schwartz, K.: „Die Scheinreferenden und das Völkerrecht“, in: tagesschau.de
(28.09.2022)
[https://www.tagesschau.de/ausland/europa/schreinreferendum-voelkerrecht-101.html].
[10]
tagesschau.de: „Ohne juristischen Bestand“ (23.09.2022)
[https://www.tagesschau.de/ausland/europa/schreinreferendum-voelkerrecht-101.html].
[11]
Sangal, A. u. a.: „September 28, 2022 Russia-Ukraine news“, in: cnn.com (29.09.2022)
[https://edition.cnn.com/europe/live-news/russia-ukraine-war-news-09-28-
22/h_023e1d6b054a8eb00306f3bdba8ed1dc].
[12]
Westdeutsche Zeitung: „So reagieren Scholz, Biden und Co. auf die Referenden-
Ankündigung“ (20.09.2022)
[https://www.wz.de/politik/ukraine-krieg-so-reagieren-scholz-biden-und-co-auf-die-
referenden-ankuendigung_aid-77119951].
[13]
Merkur.de: „Duma entscheidet Anfang der Woche über Annexionen“ (28.09.2022)
[https://www.merkur.de/politik/duma-entscheidet-anfang-der-woche-ueber-annexionen-zr-
91817548.html].
[14]
tagesschau.de: „Kreml kündigt Annexion am Freitag an“ (29.09.2022)
[https://www.tagesschau.de/ausland/europa/annexion-scheinreferenden-zeremonie-
101.html].
[15]
euronews: „Sieben Jahre Haft für ‚Reizwort Krieg‘: ‚Braucht ihr diesen Krieg immer
noch?‘“ (09.07.2022)
[https://de.euronews.com/2022/07/08/sieben-jahre-haft-fur-reizwort-krieg-braucht-ihr-
diesen-krieg-immer-noch].
[16]
mdr: „Selensky: Keine Verhandlungen im Fall von Annexion“ (28.09.2022)
[https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/liveblog-ukraine-krieg-duma-
entscheidung-annexion-100~amp.html#Selenskyj].
[17]
Bathon, R.: „Wie die russische ‚Spezialoperation‘ offiziell zum Krieg wird“, in: Telepolis
(21.09.2022)
[https://www.heise.de/tp/features/Wie-die-russische-Spezialoperation-offiziell-zum-Krieg-
wird-7271523.html].
[18]
Kramper, G.: „Putin beseitigt den größten Mangel seiner Truppen und eröffnet die
nukleare Option“, in: Stern.de (21.09.2022)
[https://www.stern.de/politik/putin-beseitigt-den-groessten-mangel-seiner-truppen-und-
eroeffnet-die-nukleare-option-32746798.html].
[19]
tagesschau.de: „Fast 100.000 Russen nach Kasachstan ausgereist“ (27.09.2022)
[https://www.tagesschau.de/ausland/ukraine-russen-kasachstan-101.html].
[20]
Deutschlandfunk: „Putins Anordnung und die Rolle der Atomwaffen“ (01.03.2022)
[https://www.deutschlandfunk.de/ukraine-russland-putin-abschreckungskraefte-
alarmbereitschaft-atomwaffen-102.html].
[21]
Dicke, T. V.: „Ukraine-Krieg: Nach Putin-Atomdrohung – Geheimdienste verstärken
Überwachung“, in: Frankfurter Rundschau (28.09.2022)
[https://www.fr.de/politik/ukraine-krieg-putin-russland-atomwaffen-atombombe-nuklear-
drohung-usa-zr-91817393.html].
[22]
Prien, L.: „US-Insider halten großen Atomschlag für ausgeschlossen – warnen aber vor
Putins „taktischen“ Sprengköpfen“, in: Merkur.de (28.09.2022)
[https://www.merkur.de/politik/ukraine-krieg-russland-atomwaffen-usa-putin-medwedew-
taktisch-strategisch-geheimdienst-91817237.html].
[23]
ntv: „Masala: "Demonstrationsschlag" mit Atomwaffe möglich“ (17.03.2022)
[https://www.n-tv.de/politik/Masala-Demonstrationsschlag-mit-Atomwaffe-moeglich-
article23204579.html].
[24]
Merkur.de: „IAEA-Chef nach Reise zu AKW: ‚Wir spielen mit dem Feuer’“ (06.09.2022)
[https://www.merkur.de/politik/iaea-chef-nach-reise-zu-akw-wir-spielen-mit-dem-feuer-zr-
91771592.html].
[25]
Maruhn, J./ Wilke, M.: (Koord.): Raketenpoker um Europa. Das sowjetische SS 20-
Abenteuer und die Friedensbewegung (2001).
[26]
Sangal, A. u. a.: „September 26, 2022 Russia-Ukraine News“, in: cnn.com (27.09.2022)
[https://edition.cnn.com/europe/live-news/russia-ukraine-war-news-09-26-
22/h_6f76b5471ce89124a06db6aaf831db21].
[27]
Horowitz, L.: Wachs, L.: „Russlands nukleare Drohgebärden im Krieg gegen die
Ukraine“, in: Stiftung Wissenschaft und Politik (08.04.2022)
[https://www.swp-berlin.org/en/publication/russlands-nukleare-drohgebaerden-im-krieg-
gegen-die-ukraine].
Weitere Literatur und Internetseiten
Russische Nuklearwaffen
•
Atomwaffen A – Z: „Russland“ (2022)
[https://www.atomwaffena-z.info/heute/atomwaffenstaaten/russland.html].
•
Wachs, L.: „Die Rolle von Nuklearwaffen in Russlands strategischer Abschreckung“, in
Stiftung Wissenschaft und Politik (23.09.2022)
[https://www.swp-berlin.org/en/publication/die-rolle-von-nuklearwaffen-in-russlands-
strategischer-abschreckung].
Zitierempfehlung
Martin Schneider: „Droht ein russischer Atomschlag?“, in: Mensch Geschichte Politik
(29.09.2022)
[http://www.mensch-geschichte-politik.de/droht-ein-russischer-atomschlag.htm].
© Martin Schneider 2014 - 2023
Dossiers
„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft!“
(Wilhelm von Humboldt, 1767 - 1835)
Droht ein russischer
Atomschlag?
Situation in der Ukraine: ukrainisch kontrolliertes
Territorium (gelb), russisch kontrolliertes Territorium
(rot), ukrainischer Vormarsch (blaue Pfeile), russischer
Vormarsch (rote Pfeile).
[Von Viewsridge - Eigenes Werk, derivate of Russo-Ukraine Conflict (2014-
2021).svg von Rr016Missile attacks source:BNO NewsTerritorial control
sources:Template:Russo-Ukrainian War detailed map / Template:Russo-
Ukrainian War detailed relief mapISW, CC BY-SA 4.0,
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=115506141]
Die Karte zeigt die europäischen NATO-Mitglieder,
farblich nach Beitrittsjahren unterschieden. Deutlich wird
die Osterweiterung des Bündnisses ab 1999. Die Ukraine
ist derzeit kein NATO-Mitglied, Schweden und Finnland
befinden sich aktuell im Beitrittsprozess. Nicht
eingezeichnet sind die amerikanischen NATO-Mitglieder
USA und Kanada. Beide waren im Jahr 1949
Gründungsmitglieder.
[Von Patrickneil, - Eigenes Werk, basierend auf: EU1976-1995.svg von
glentamara, CC BY-SA 3.0,
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4794601]