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Russlands historisches Erbe Datum: 06.03.2022 Autor: Martin Schneider, M. A. Lesedauer: ca. 7 Minuten Wer die politische Entwicklung Russlands verstehen möchte, muss neben dessen wirtschafts- und geopolitischen Interessen in einer globalisierten Welt auch die russische Geschichte betrachten. Ungeachtet des mehrfachen Wechsels der politischen Systeme erscheint das historische Erbe Russlands von mehreren Kontinuitäten geprägt. Inhaltsübersicht Historischer Wandel Kontinuitäten Einflusszonen Mahnungen der Geschichte Quellen Weitere Literatur und Internetseiten Historischer Wandel Auf das autokratische Zarenreich folgte nach der Februarrevolution 1917 die kurze Phase einer Republik, nach der Oktoberrevolution 1917 und dem russischen Bürgerkrieg gründete sich mit der Sowjetunion der erste sozialistische Staat. Zwar kam ihm zunächst eine weltpolitische Pariastellung zu, im Zweiten Weltkrieg zählte er jedoch zu den Siegermächten und war im anschließenden Kalten Krieg nuklear bewaffnete Führungsmacht des Warschauer Paktes. Doch die Sowjetunion hat den Kalten Krieg 1991 verloren. Nicht nur der Warschauer Pakt löste sich auf. Auch sie selbst zerfiel unter Michail Gorbatschows Reformprogramm von „Glasnost“ und „Perestroika“ in eine Vielzahl souveräner Nationalstaaten. Deren politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung gestaltet sich bis heute schwierig. Unter Boris Jelzin trat Russland als größter Nachfolgestaat das Erbe der Sowjetunion an. Es war weiterhin Nuklearmacht und behielt den Ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Doch außenpolitisch war es schwach und die innenpolitischen Herausforderungen waren enorm: Von westlichen Krediten abhängig, erfolgte die Umstellung auf die Marktwirtschaft der ehemals feindlichen Westmächte. Sie verschärfte die sozialen Spannungen im Land und führte Ende der 1990er Jahre zu einer verheerenden Finanzkrise. Parallel wagte man die ersten Schritte hin zu einer bürgerlichen Demokratie, musste aber 1993 auf einen Putschversuch und später auf die nationalistischen Unabhängigkeitsbestrebungen in Tschetschenien reagieren. Unter Wladimir Putin ist 2022 nicht mehr viel von dieser Demokratie übriggeblieben: Sie gilt als ausgehebelt, gelenkt und kaputt. Kontinuitäten Dass die meisten Veränderungen des politischen Systems kurzfristig stattfanden und Führung sowie Bevölkerung kaum Zeit ließen, sich politisch und gesellschaftlich darauf einzustellen, ist eine Kontinuität der russischen Geschichte. Autokratische Führung Ebenso kontinuierlich stand in allen politischen Systemen Russlands immer eine starke Führungsperson im Fokus: von den autokratischen Zarinnen und Zaren über die Parteichefs der KPdSU bis hin zu Putin. Schwierige Umsetzung liberaler Ideen Sie alle taten sich in der Geschichte äußerst schwer, liberale, von der europäischen Aufklärung geprägte Reformen umzusetzen. Selbst der für seine „Großen Reformen“ der 1860er Jahre in die Geschichte eingegangene Zar Alexander II. äußerte gegenüber Otto von Bismarck, „dass es noch nie gelungen sei, der liberalen Entwicklung eines Landes an der Linie, welche dieselbe nicht überschreiten solle, mit Erfolg stillstand zu gebieten“ (zit. nach [1]). Liberale bürgerliche Rechte bargen immer die Gefahr von Eigendynamik und weitergehenden politischen Forderungen, die das autokratische Regime insgesamt gefährden konnten. So wohlwollend im Westen der 1980er Jahre Gorbatschows Reformpolitik von „Glasnost“ und „Perestroika“ gesehen wurde, so sehr bereiteten sie auch den Boden für den innenpolitischen Zerfall der Sowjetunion. Unterdrückung der Opposition Das Resultat von Reformforderungen oder Aufständen war in der russischen Geschichte oft eine harte, misstrauische Politik gegenüber der Bevölkerung. Dies gilt für die Bekämpfung politischer Opposition, sowie der Demokratie- und Friedensbewegung unter Putin bis heute. Russischer Kolonialismus Die Kontinuität eines langen kolonialpolitischen Kampfes um Gebiete, Macht und Einflusssphären ließ durch Eroberungen unter dem Zarentum ein riesiges, russisch geführtes Reich entstehen, das die Sowjetunion erbte. Beide gliederten die Völker notfalls zwangsweise diesem Reich ein. Da diese Völker russische Herrschaft aber vor allem als Fremdherrschaft wahrnahmen und in der Zweiten Hälfte der 1980er Jahren ebenfalls von Gorbatschows Reformen erfasst wurden, brach die Sowjetunion 1991 in souveräne Nationalstaaten auseinander. Krimkonflikt und Mittelmeerraum In Gegnerschaft zum Osmanischen Reich spielte auch die Krim bereits im Zarenreich eine wichtige geostrategische Rolle. Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist sie Staatsgebiet der Ukraine, wurde 2014 aber völkerrechtswidrig von Russland annektiert. Zu nennen ist auch der kolonialpolitische Versuch, in der Neuzeit angesichts französischer und englischer Kolonialziele selber im östlichen Mittelmeerraum aktiv zu sein. Noch aus der Sowjetunion besitzt Russland heute einen Militärstützpunkt in Syrien. Einflusszonen Trotz gegenteiliger mündlicher Zusagen aus dem Anfang der 1990er Jahre erweiterte sich die NATO ab 1999 und die Europäische Union ab 2004 dann doch nach Osten. Sie umfassen heute auch das Gebiet des ehemaligen Ostblocks sowie mit Estland, Lettland und Litauen sogar ehemaliges Staatsgebiet der Sowjetunion. Damit haben sich beide Organisationen bis an die russische Grenze und in russisches Einflussgebiet ausgeweitet. Georgien, Ukraine und Moldau Auch Georgien und die Ukraine waren zeitweise als NATO- und EU-Mitglieder im Gespräch [2] [3]. Zwar hat Putin diese Entwicklung mit der Unterstützung russischer Separatisten in beiden Ländern, dem russisch-georgischen Krieg 2008 und dem am 24. Februar 2022 erfolgten Angriff auf die Ukraine vorerst gestoppt. Wäre es aber nur sein Ziel, Russland wieder zu einer wahrnehmbaren Weltmacht mit zu respektierenden Einflusszonen zu machen, könnte er es spätestens nach den intensiven diplomatischen Friedensbemühungen vom Januar und Februar 2022 als erreicht ansehen. Doch es scheint ihm um mehr zu gehen. Offensichtlich versucht er, verlorene russische/ slawische Gebiete nach Russland, bzw. in den russischen Einflussbereich zurückzuholen. Denn in vielen postsowjetischen Staaten leben größere russische Minderheiten. Russisch unterstützte separatistische Bewegungen in postsowjetischen Staaten gibt es nicht nur in den beiden selbsternannten „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk auf ukrainischem Territorium, sondern mit Abchasien und Südossetien auch auf georgischem Gebiet, sowie mit Transnistrien in der Republik Moldau. Am 24. Februar 2022 griff Russland nicht nur die Ukraine an, sondern startete zugleich ein Militärmanöver in Transnistrien. Die Republik Moldau verhängte inzwischen den Ausnahmezustand [4]. Demokratie Zudem greift Putin mit der Ukraine ein Land an, das sich in den letzten Jahren beachtlich demokratisch entwickelt hat. Es könnte durchaus als Vorbild für andere Staaten des postsowjetischen Raums dienen, nicht zuletzt für Demokratisierungsbemühungen in Russland selbst. Doch so eine Entwicklung stünde Putins autokratischen Bestrebungen genauso im Wege wie die Opposition im eigenen Land. Mahnungen der Geschichte Das Recht zu einem Angriffskrieg geht aus der Geschichte ganz sicher nicht hervor. Vielmehr kann aus den historischen Erfahrungen das Vermächtnis einer Mahnung gelesen werden: zu einem vorsichtigen, verantwortungsvollen Umgang mit politischer und militärischer Macht, Völkern und Staaten, um in Frieden miteinander zu leben. Ebenso gibt es eine Mahnung im Umgang mit der eigenen Bevölkerung, denn „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben!“ (Michail Gorbatschow). Auch wenn in diesem Artikel der Fokus auf Russland gerichtet ist: Für die westliche Welt gelten diese Mahnungen ebenso! Quellen [1] Lautemann, W./ Schlenke, M.: Geschichte in Quellen 5: Das bürgerliche Zeitalter 1815 - 1914 (1980). [2] Hagedorn, A.: „Streit über den NATO- Beitritt von Georgien und Ukraine“, in: Deutsche Welle (06.03.2008) [https://p.dw.com/p/DIop]. [3] Europäische Kommission: Georgien, Moldawien und Ukraine [https://ec.europa.eu/taxation_customs/customs-4/international-affairs/third- countries/georgia-republic-moldova-and-ukraine_de]. [4] Kurier.de: „Ukrainisches Nachbarland Moldau verhängt Ausnahmezustand“ (24.02.2022) [https://kurier.at/politik/ausland/ukraines-nachbarland-moldau-verhaengt- ausnahmezustand/401917633] Weitere Literatur und Internetseiten Russische Geschichte Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier Russland [https://www.bpb.de/themen/europa/russland/] Hildermeier, M.: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution (2013). Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI): Russia [https://www.sipri.org/research/armaments-and-disarmament/nuclear-weapons/world- nuclear-forces/russia]. Torke, H.-J. (Hg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion 1917/ 22 bis 1991 (1993). Torke, H.-J. (Hg.): Lexikon der Geschichte Rußlands. Von den Anfängen bis zur Oktoberrevolution (1985). Geschichtsdeutung Simon, G.: „Russland: Historische Selbstvergewisserung und historische Mythen“, in: Geschichtsdeutungen im Internationalen Vergleich (2003), S. 61 - 74. Stewart, S.: „Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands“, in: Stiftung Wissenschaft und Politik (11.11.2020; doi:10.18449/2020S22) [https://www.swp-berlin.org/publikation/geschichte-als-instrument-der-innen-und- aussenpolitik-am-beispiel-russlands] Russland-Ukraine-Konflikt Bundeszentrale für politische Bildung: Ukraine-Analysen [https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/?field_date_content=all&field_tags_keywords[ 0]=-1&d=1] Tagesschau.de: Nachrichten zum Thema Ukraine [https://www.tagesschau.de/thema/ukraine/] von Daniels, L. u. a.: „Russischer Angriff auf die Ukraine: Zeitenwende für die euro- atlantische Sicherheit“, in: Stiftung Wissenschaft und Politik (25.02.2022) [https://www.swp-berlin.org/publikation/zeitenwende-fuer-die-euro-atlantische-sicherheit] Zitierempfehlung Martin Schneider: „Russlands historisches Erbe“, in: Mensch Geschichte Politik (06.03.2022) [http://www.mensch-geschichte-politik.de/russlands-historisches-erbe.htm].
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Russlands historisches Erbe
Zar Alexander II. ging durch seine „Großen Reformen“ in die russische Geschichte ein [Von Autor/-in unbekannt - http://www.runivers.ru/gal/gallery- all.php?SECTION_ID=7085&ELEMENT_ID=460860, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=28911 934]
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